Arbeitsschutz-Bilanz Deutschland: Kleinunternehmen haben Probleme
Für die zweite europaweite Unternehmensbefragung der EU-OSHA ESENER-2 wurden die Antworten von fast 50.000 Unternehmen auf Fragen zum Management von Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit sowie zu Risiken am Arbeitsplatz ausgewertet. Das besondere an dieser Studie ist: Sie soll politischen Entscheidungsträgern länderübergreifende, vergleichbare Informationen zur Verfügung stellen, die auch bei der Entwicklung und Umsetzung neuer politischer Strategien von Nutzen sein können. Für die deutsche Politik und ihre Entscheidungsträger fällt diese repräsentative Umfrage eher ernüchternd aus. Insbesondere bei kleinen und mittleren Unternehmen zeigt die deutsche Arbeitsschutzstrategie im europäischen Vergleich außerordentliche Defizite.
Nur 40% der befragten deutschen Betriebe mit bis zu 9 Mitarbeitern gibt an, die gesetzlichen Anforderungen zu betriebsärztlichen Betreuung umgesetzt zu haben. Im europäischen Vergleich hinken die deutschen Kleinunternehmen damit Ländern wie Portugal (95%), Frankreich (92%), Polen (92%) oder Slowenien (92%) deutlich hinterher und platzieren sich im letzten Viertel der europäischen Länder. Interessant hierbei ist, dass gleichzeitig 59% der Unternehmer angeben, in den vergangenen 3 Jahren von der Gewerbeaufsicht oder der Berufsgenossenschaft aufgesucht worden zu sein. Somit müsste sich der Anteil der Unternehmen, welche die gesetzlichen Mindestanforderungen erfüllt, eigentlich an diesen 59% orientieren.
Das Arbeitssicherheitsgesetz ist nahezu nicht bekannt
Defizite im Arbeitsschutz werden gerne an ausufernden Rechtsvorschriften festgemacht. Interessanterweise fühlen sich aber nur 12% der Unternehmer von den Regelwerken überfordert und geben an, dass das Fachwissen bei ihnen vorhanden sei. In einer Befragung im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin im Jahr 2010 konnten jedoch von 1.000 Geschäftsführern nur 70 das Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) als Vorschrift nennen. Die grundlegende Forderung des Arbeitssicherheitsgesetzes, dass ein Betriebsarzt und eine Fachkraft für Arbeitssicherheit für den Arbeitsschutz bestellt werden müssen, ist nahezu unbekannt.
Die positiven Auswirkungen eines Arbeits- und Gesundheitsschutzes für das Unternehmen scheinen im Gegenzug aber allgegenwärtig zu sein: Immerhin finden 84% der Geschäftsführer von Kleinbetrieben, dass Sicherheit und Gesundheit zum Erfolg des Unternehmens beiträgt. Aber auch hier ist ein deutliches Missverhältnis zwischen Theorie und Praxis zu verzeichnen: Die Rate der durch Arbeitsunfälle bedingten Ausfallzeiten ist in Kleinunternehmen fast 30% höher als bei Großunternehmen.
Abgesehen von den rechtlichen Konsequenzen und einer drohenden privaten Haftung im Schadensfall: Wenn der gesetzliche Mindeststandard nicht eingehalten wird, kostet fehlender Arbeits- und Gesundheitsschutz weitaus mehr als die Umsetzung gesetzlicher Mindestbestimmungen. Berechnungen zeigen, das die Reduktion des Krankenstands um 1% bei einem Kleinbetrieb mit 20 Mitarbeitern eine jährlich Ersparnis von 10.000 Euro bringen kann. Je größer das Unternehmen, um so deutlicher die Kalkulation: Ein mittelständischer Betrieb mit 340 Mitarbeitern benötigt jährlich bis zu 4 Millionen Euro zusätzlichen Umsatz, um den Produktivitätsausfall der durchschnittlichen Krankheitstage zu kompensieren.
Die Aussage „Sicherheit und Gesundheit = ein Erfolgsfaktor für das Unternehmen“, lässt sich auch nicht mit Taten bestätigen: Nur 19% der befragten Kleinunternehmer geben an, ein jährliches Budget für Arbeitsschutzmaßnahmen und -ausrüstung festzulegen. Durchschnittlich fließen in deutschen Unternehmen gerade einmal 0,08% der knapp 5,96 Billionen Euro Umsatz in den Arbeits- und Gesundheitsschutz. Keine angemessene Kennzahl für eine Industrienation, wenn man weiß, dass ein zielgerichteter Arbeits- und Gesundheitsschutz entscheidend zum Erfolg eines Unternehmens beitragen kann.
Ist das Modell der Arbeitgeberverantwortung im Arbeitsschutz gescheitert?
Zusammenfassend zeigen diese Zahlen, dass die Idee eines in überwiegender Eigenverantwortlichkeit (bzw. in anderen Worten: eines sich selbst überlassenen) betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes auch im 20. Jubiläumsjahr des Arbeitsschutzgesetzes keine signifikanten Früchte trägt. Während Großbetriebe und Konzerne von einem eigenverantwortlich gesteuerten Arbeits- und Gesundheitsschutz – sicherlich auch aufgrund ihrer vorhandenen Ressourcen – außerordentlich profitieren (bzw. die entsprechenden Rechtsabteilungen aufgerüstet haben), zahlen die Kleinunternehmen in der Endabrechnung drauf. Es scheint so, als hätten die Kleinunternehmen kein ausreichendes politisches Gewicht. Unverständlich, wenn man bedenkt, dass 60% der Arbeitnehmer in Deutschland in einem kleinen oder mittelständischen Unternehmen beschäftigt sind und über 82% der Unternehmen Kleinunternehmen mit maximal 9 Mitarbeitern sind.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Kleine und mittlere Unternehmen sollten nicht zwangsläufig den Standards von Konzernen hinterherlaufen – weder in Fragen der Compliance noch beim Arbeits- und Gesundheitsschutz. Ein guter Anfang wäre jedoch beispielsweise, die vorhandenen (und auch schon bezahlten) Ressourcen einfach auszuschöpfen: Wussten Sie, dass die zuständigen Arbeitsschutzbehörden neben der Überwachung der Einhaltung des Arbeitsschutzrechtes auch die gesetzliche Aufgabe haben, die Arbeitgeber bei der rechtskonformen Umsetzung von rechtlichen Vorgaben zu beraten? Diese Beratungsverpflichtung gilt ebenso für die Berufsgenossenschaften: In § 17 Sozialgesetzbuch VII wird ihnen die Aufgabe übertragen die „Unternehmen zu überwachen sowie die Unternehmer und die Versicherten zu beraten.“
Der Länderausschuss für Arbeitssicherheit und Sicherheitstechnik (LASI) geht sogar noch einen Schritt weiter und schreibt den zuständigen Arbeitsschutzbehörden in ihre Statuten: „gegenüber dem Arbeitgeber können auch Empfehlungen ausgesprochen werden, um einen bestmöglichen Arbeitsschutz, der über den gesetzlich geforderten Zustand hinausgeht, zu erreichen“. Kleine und mittlere Unternehmen sollten diese Option zur Beratung durch die Arbeitsschutzbehörden und Berufsgenossenschaften durchaus in Anspruch nehmen!